A N A B A S I S

Thalatta ! Thalatta !

Tatwerkzeug

Foto: MfS

Beschlagnahmtes Tatwerkzeug MEPHISTOs (Foto: Ministerium für Staatssicherheit)

 

Unter einem bombastischen, hinter dem Rücken des Gerichts von der Wand glitzernden Staatsemblem der DDR wurde am 23. März 1984 das Gedicht VISION vor dem Strafsenat Ia des Ostberliner Stadtgerichts verlesen, als Beweismittel für die antisozialistische, demnach verbrecherische Gesinnung seines von der deutschen demokratischen Geheimpolizei unter dem Codenamen MEPHISTO „mit Haft bearbeiteten“ und in schmerzender Knebelkette vorgeführten Autors. Bei peinlichstem Ausschluß der Öffentlichkeit, nicht einmal ein in der sozialistischen Rechtssprechung unabdingbarer „Kollektivvertreter“, für gewöhnlich ein zuverlässiger Genosse zur Beschimpfung des Angeklagten, war geladen worden. Sogar den Gebäudeteil hatte man für die Dauer der Verhandlung gesperrt. Und doch entsandte man vor der Verlesung noch extra einen beflissen eilenden Gerichtsdiener nach draußen an die Saaltür, um zu kontrollieren, ob nicht jemand lausche. Der Westberliner Anwalt Näumann schrieb nach Abschluß des Verfahrens an einen in Westdeutschland lebenden Onkel des Verfassers:

Mir liegt nunmehr der schriftliche Bericht meiner Ost-Berliner Kollegen Dr. Vogel, Starkulla und Hartmann vor. Das Stadtgericht Berlin verhandelte am 23. und 27.03.1984 und erkannte antragsgemäß nach § 106 Absatz 1 Ziffer 1,2,3 und Absatz 2 (sogenannte staatsfeindliche Hetze) Strafgesetzbuch der DDR auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Eingezogen wurde eine Schreibmaschine und div. Schreiben sowie der PKW Trabant, pol. Kennz.: PM 85-25. Die Untersuchungshaft rechnet seit dem 03.10.1983. Meine Kollegen haben Ihren Neffen am 29.03.1984 in der Untersuchungshaftanstalt besucht, um die Rechtsmittelproblematik zu erörtern. Ihr Neffe wünscht keine Berufung, da er keine Erfolgsaussichten sieht.

Nach etwa zwei Jahren konnte der Verfasser freigekauft werden aus dem sozialistischen Strafvollzug des Zuchthauses Brandenburg (hier hatten seinerzeit die Nationalsozialisten bereits seinen Vater inhaftiert, als Widerstandskämpfer aus dem Kreis der Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe), wo man ihn zu seiner Besserung in einer 20 qm großen Zelle der erzieherischen Aufsicht von sieben Mitgefangenen (Mörder, Triebtäter, Gewaltverbrecher, Psychopathen) unterstellt hatte, und er wurde, wenngleich noch ungebessert, in den Westen entlassen.

Das Gedicht beschrieb dem Tribunal einen visionären Aufmarsch als Rundumsicht aus der Perspektive des Platzes gegenüber der Berliner Humboldt-Universität. Bevor die Sozialisten jenen neben der Staatsoper gelegenen „Opernplatz“ in „Bebel-Platz“ umbenannten und dort Kundgebungen und Massenaufmärsche unter Einschluß ihrer grau uniformierten „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ veranstalteten, hatten auf dem Opernplatz am 10. Mai 1933 die Nationalsozialisten Studenten und braun uniformierte SA-Leute die Bücher von Autoren „undeutschen Geistes“ verbrennen lassen.

[NVA hieß das Kürzel der sogenannten Nationalen Volksarmee Ostdeutschlands]